Über Fehler

Schon mal von Archaeen gehört? Das sind einzellige Organismen, man nennt sie auch Urbakterien. Sie haben keinen Zellkern, ihre Erbsubstanz schwimmt frei in der Zelle. Sie sind möglicherweise die älteste Form von Leben auf der Erde, oder haben zumindest noch Eigenschaften der frühesten Lebensformen in sich.

Wäre der Vorgang, bei dem die Erbsubstanz kopiert wird, stets fehlerfrei abgelaufen, dann wären die Urbakterien schön unter sich geblieben bis heute. Offensichtlich ist das nicht so.

Es gibt sie immer noch, manche fixieren in Böden Stickstoff, andere leben in unserem Darm und helfen uns bei der Verdauung. Dass sich verschiedene Arten von Archaeen entwickeln konnten, und darüber hinaus mittlerweile auch eine so große Vielfalt andere Arten auf unserem Planeten entstanden sind, hat eine Ursache: Fehler. In diesem speziellen Zusammenhang sind es Fehler, die beim Kopieren der Erbsubstanz, also der DNS, passieren. Solche Fehler nennt man gemeinhin Mutationen und zusammen mit Selektion ergibt sich daraus, was wir evolutionäre Prozesse nennen – das ist das, wodurch neue Arten entstehen.

Kurz gesagt: Fehler erschaffen die Wunder unserer Welt.

Nun stellt sich die Frage: Warum versuchen wir dann mit allen Mitteln, das Fehlermachen zu vermeiden?

Schon wenn wir noch kleine Kinder sind, erklärt man uns, dass Fehler ganz schlecht sind. Man hätte es sich denken können: ganz so einfach ist das nicht. Es hängt ja doch alles von den Gesamtumständen ab, und selbstverständlich auch davon, was wir als Fehler ansehen. Es hat ein bisschen was von „Des einen Leid, ist des andern Freud“ oder „Was dem einen sin Uhl, ist dem andern sin Nachtigall“.

Für die Entscheidung, was ein Fehler und was korrekt ist, brauchen wir eine solide Basis. Ohne ein solches Fundament, sitzen wir auf, wir sind nicht in der Lage, falsch von richtig zu unterscheiden. Wir brauchen Orientierung zur Bewertung der Situation. Wir brauchen Kriterien, Regeln. Und diese fußen notwendigerweise auf der Basis dessen, was sich in der Vergangenheit als richtig oder falsch erwiesen hat, und auf der Grundlage des aktuell akzeptierten Paradigma.

Aber, Moment: etwas, das ein Original ist, das gab es bisher noch nicht, es ist neu, bis zu diesem Moment unbekannt. Und da es völlig neu ist, entspricht es womöglich nicht den Standards, den Regeln. Am Ende kann es mit den vorhandenen Regeln gar nicht beurteilt werden. Aus dem einfachen Grund, weil zum Zeitpunkt, als die Regeln aufgestellt wurden, dieses jetzt Neue noch gar nicht existiert hat, und deshalb beim Aufstellen der Standards nicht mit einbezogen werden konnte. Und, ehrlich gesagt, die Geschichte der Wissenschaft ist voll von solchen Fällen, und nicht wenige davon haben letztlich zu Pardigmenwechseln geführt..

Und wir wissen: ein Kunstwerk ist ein Original.

Wer einen Fehler findet, der hält zunächst inne. Man sieht den Fehler und überlegt nochmal. Muss das korrigiert werden? Oder ist das etwas, aus dem etwas Neues, etwas Besseres, etwas Interessanters entstehen kann? ? Fehler zeigen uns, dass da Freiräume sind, Möglichkeiten für Veränderung. Raum schaffen für Fehler oder Abweichungen, heißt nicht, handwerkliche Meisterschaft über Bord zu werfen. Fehler zuzugeben, ist nicht gleichbedeutend mit Nachlässigkeit oder mangelnder Sorfalt. Es gibt immer Fehler, die korrigiert werden müssen. Aber manche können stehen bleiben. Um ein Werk mit Leben zu füllen, es zu einem Werk eines echten Menschen zu machen – und, wie schon die Alten wussten – um gegen den Bösen Blick zu schützen.

Allem, was lebt, können Fehler unterlaufen. Alles was lebt, ist nicht perfekt. Ich bin ein lebendes Wesen und daher nicht perfekt, und meine Werke sind es auch nicht. Ich möchte auch gar nicht, dass meine Werke perfekt sind. Für mich ist etwas, das perfekt ist, unnatürlich, steril, nicht im eigentlichen Sinne tot, aber leblos.

Kaffeefleck im Künstlerbuch, das aus Makulaturen gefertigt ist

Allerdings: eines meiner Künstlerbücher ist absichtlich voller Fehler, es ist als Werk aus Makulaturen konzipiert und auch so ausgeführt. Alle Bogen sind Makulaturen, also Druckbogen, die fehlerhaft sind und normalerweise wegeworfen werden. Ich habe sie korrekturgelesen, aber die Setz- und Druckfehler stehen lassen. Mehr noch: es sind Kaffeeflecken drin, es sind Abdrücke von Schuhsohlen auf den Bogen, sie haben alle möglichen Mängel, die sie zu Makulaturen machen. Es ist das Werk „Mir fehlt ein Wort“ mit Texten von Kurt Tucholsky.

Künstlerbuch „Mir fehlt ein Wort“ mit 60 Texten von Kurt Tucholsky, Preußische Archivheftung, Mappe in Stülpdeckelschachtel

Mir fehlt ein Wort

Die klassischen Fehler im Buchdruck

Im Buchdruck gibt es grundsätzlich zwei Sorten von Fehlern. Die einen, die der Hand des Druckers zuzurechnen sind, die Druckfehler, und die, welche der Schriftsetzer zu verantworten hat, die Setzfehler. In beiden Fällen ist das Resultat ein Makulaturbogen, aber Drucker und Setzer haben es sehr ernst genommen mit der Unterscheidung der Verantwortlichkeiten. I In Büchern, die noch im Buchdruck und Bleisatz gedruckt sind, finden sich beide Sorten. Die Setzfehler sind einfach: der Lektor hätte sie finden sollen, aber auch Lektoren sind nur Menschen.

Ein klassischer Setzfehler und in doppelter Hinsicht ein „Fisch“: eine Letter im falschen Fach des richtigen Schriftkastens

Heimtückisch sind die Spieße. Sie zeigen sich nicht im Korrekturabzug, sondern trauen sich erst aus der Deckung, wenn der Auflagendruck läuft. Die Korrekturabzüge sind geprüft, alles ist in Ordnung, der Auflagendruck kann losgehen. Die Vibrationen der Druckpresse wecken sie auf. Spieße entstehen, wenn Blindmaterial, zum Beispiel Wortabstände, sich lösen können, weil der Satz in der Presse nicht fest genug geschlossen wurde.

Handgesetzter Text in der Presse und eingefärbt: die Spatien sind kürzer als die Lettern und nehmen keine Farbe auf

Blindmaterial ist eigentlich kürzer als Schrift, eben damit es nicht mitdruckt, sondern weiße Räume schafft zwischen Wörtern oder Zeilen. Durch die Vibrationen in der Presse können diese kleinen Zwischenstücke langsam nach oben ruckeln. Sobald sie Druckhöhe erreichen, nehmen sie Farbe auf, drucken mit und sagen damit „Ich bin auch da.“

Ein klassischer Spieß in einem Gedichtband, der Mitte der 1960-er erschienen ist

 

Für alle, die sich fragen, was es mit dem Titelbild zu diesem Beitrag auf sich hat, hier eine kleine Anmerkung:

Es gibt recht strikte Regeln für den Schriftsatz von Frakturschriften. Eine davon betrifft den Einsatz der zwei verschiedenen s-Formen, das Lang-s und das Rund-s. Die korrekte Verwendung des Rund-s sieht man in dem Wort „Aus“, und die korrekte Verwendung des Lang-s sieht man im Wort „schönen“. Das Lang-s hätte auch in dem Wort „Gast“ verwendet werden müssen, leider ist das nicht geschehen. So stehen dadurch richtig und falsch recht unglücklich Seite an Seite.

 

Wird fortgesetzt – nächste Folge am 8. Mai 2024

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